Atrocity Film
Atrocity Film ist ein Essayfilm, der sich mit den während des Holocausts entstandenen, dokumentierenden und propagandistisch verzerrenden Filmdokumenten und ihrer Bedeutung für unser heutiges Verständnis und unser Geschichtsbild vom Judenmord auseinandersetzt. Ausgehend von Lt. Budd Schulbergs Suche nach Beweismaterial für die Nürnberger Prozesse begeben wir uns auf eine Reise zu den Archivstandorten des ehemaligen Reichsfilmarchivs in Berlin, Westdeutschland und Tirol, zu den Tatorten des Judenmords, den alliierten Archiven in Washington und Moskau und schließlich zu den Biographien derjenigen, die laut Schulbergs Untersuchung an der Herstellung des Atrocity- oder SS-Films beteiligt waren und deren Biographien bis in die jüngste Vergangenheit reichen. Warum wurde der Atrocityfilm nie gefunden? Wie konnte das Wissen über dieses Filmvorhaben verlorengehen? Wie hat der Film ausgesehen? Sind die in den letzten 40 Jahren nach und nach aufgetauchten Materialien und Dokumente über einschlägige Dreharbeiten möglicherweise Teile dieser geheimen Filmproduktion? Der Essayfilm nähert sich der Thematik auf vier Ebenen. Neben der Suche von Schulberg, der sich kurz nach der Kapitulation im besetzten Deutschland, umgeben von Tätern, auf die Suche nach dem Material macht, nimmt Atrocity Film das Thema aus heutiger Perspektive in den Blick und hinterfragt Motivationen: warum macht es für den Regisseur und die antizipierten Zuschauer Sinn, sich heute mit diesen Fragen zu beschäftigen? Auf einer weiteren Ebene rekonstruiert der Film die Entstehungsgeschichten der bekannten Materialien und macht sie erstmals als Filmdokumente zugänglich. Schließlich befasst sich Atrocity Film mit der Rezeptions- und Verwendungsgeschichte dieser Materialien und problematisiert die unterschiedlichen Phasen der Nutzung in Dokumentar- und Spielfilmen und deren Bedeutung für die Entstehung kollektiver Gedächtnisse und Geschichtsbilder.
In einer zunehmend auf Bilder fokussierenden Öffentlichkeit und mit dem Schwinden der Zeitzeugen bekommt die Frage nach der Darstellung des Genozids eine neue Bedeutung. Sowohl die Frage der Darstellbarkeit, also auch die Frage nach der Bedeutung und den Ursachen für die Abwesenheit einer flächendeckenden Dokumentation sind hier von Interesse. Dabei zeigt die Materialsammlung und -Analyse von Atrocity Film deutlich, dass es sehr viel mehr Material gibt, als allgemein angenommen – und dass die Allgegenwärtigkeit von Film und Fotokameras gepaart mit einem offensichtlich ausgeprägten Wunsch, die Greueltaten zu dokumentieren vermuten lassen, dass es noch sehr viel mehr unentdecktes Material gibt. Das führt uns zu der Frage nach den Bedingungen und den Motivationen hinter der Herstellung des SS-Films. Damit deckt die Untersuchung die drei Phasen in der Verwandlung des Materials ab, das von der Trophäe zum Beweismaterial mutiert und schließlich zum geschichtsbildenden Dokument.
Der Essayfilm stellt seinem Publikum also eine Frage: Was bedeutet diese Entwicklung für uns heute und wie sollen wir mit dem Material umgehen?
Die Montage aus Archivmaterial und aktuell gedrehten Einstellungen der heutigen Tatorte und Archive wird durch Texttafeln und streckenweise durch ein Voiceover kontextualisert und reflektiert. Dabei ermöglicht Atrocity Film eine ungewohnte Perspektive auf die bereits ikonischen Materialien des Genozids.
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